Die Zeiten, in denen orthopädische Eingriffe zwischen Stapeln von Papier, Büchern und Röntgenbildern vorbereitet wurden, sind vorbei. In der Operationsplanung zeigt sich deutlich, wie die Digitalisierung die Arbeit in der Medizin verändert.
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Franziskus Hospital Bielefeld, im Januar. Im Operationssaal 1 ist alles für den bevorstehenden Eingriff vorbereitet: Die Patientin liegt in tiefer Narkose, zwischen grünen Tüchern ist nur ein kleiner Ausschnitt ihres Rückens zu sehen. Ein als Spondylodesenverlängerung bezeichneter Eingriff, bei dem weitere Wirbel starr verbunden werden, soll die 81-Jährige von den starken Rückenschmerzen befreien, die sie seit mehreren Monaten ans Bett fesseln. Um 10.44 Uhr setzt Chefarzt Prof. Dr. Michael Schnabel routiniert den ersten Schnitt.
Für den Chirurgen hat die Operation jedoch schon deutlich früher an diesem Morgen begonnen − am Schreibtisch in seinem Büro. „Solche Eingriffe werden heute am Computer detailliert vorausgeplant“, erläutert Schnabel, der die Klinik für Unfallchirurgie, Orthopädie und Wirbelsäulenchirurgie am Franziskus Hospital leitet.
Michael Schnabel und seine Mitarbeiter setzen bei der OP-Vorbereitung die Planungssoftware mediCAD der Firma Hectec GmbH ein. Seit 1998 entwickelt die im bayerischen Landshut ansässige Firma Software-Anwendungen, mit denen sich orthopädische Operationen wie etwa ein Gelenkersatz, die Korrektur von Achsfehlstellungen oder Eingriffe an der Wirbelsäule vollständig digital planen lassen. Inzwischen verwenden knapp 4.000 Kliniken und Praxen weltweit die Landshuter Software. Konnten bislang nur zweidimensionale Röntgenaufnahmen bearbeitet werden, steht mit mediCAD Spine 3D seit Kurzem die erste Version der Software zur Verfügung, mit der sich auch dreidimensionale
CT- und MRT-Aufnahmen in die Operationsvorbereitung einbeziehen lassen. Bei Routineeingriffen wie der Wirbelstabilisierung übernimmt das Programm außerdem einige
Planungsschritte komplett selbstständig. „Die Software erkennt die Wirbel auf den Aufnahmen anhand ihrer Form und beschriftet sie korrekt“, führt Schnabel als Beispiel an. Gibt der Operateur zudem vor, welche Wirbel er im Rahmen einer Spondylodese verbinden möchte, so zeigt das Programm an, welche Schrauben hierfür geeignet wären und an welcher Stelle und in welchem Winkel sie eingesetzt werden sollten. „Natürlich muss der Operateur diese Vorschläge noch prüfen“, sagt Schnabel − dennoch spart die Software Zeit und verbessert außerdem die Vorstellung von den anatomischen Gegebenheiten, die der Chirurg während der Operation vorfinden wird.
11.10 Uhr: Mit größter Vorsicht manövriert Michael Schnabel eine kanülierte Punktionsnadel durch den Wirbelbogen am elften Thorakalwirbel seiner Patientin. Während er per Bildgebung den Winkel, die Eindringtiefe und den korrekten Sitz der Nadel im schmalen Pedikel – der Bogenwurzel des Wirbels – kontrolliert, treibt er die Sonde mit leichten Hammerschlägen Millimeter für Millimeter voran. Nach weniger als einer Minute ist der Stichkanal passend vorbereitet und die erste Pedikelschraube wird eingesetzt.
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leitet seit 2014 die Klinik für Unfallchirurgie, Orthopädie und Wirbelsäulenchirurgie am Franziskus Hospital Bielefeld. Er begrüßt die zunehmende Digitalisierung in der Klinik
sehr. „Am liebsten hätte ich gar kein Papier mehr im Büro“, sagt er. Umso mehr ärgert er sich über Software, die umständlich und schwer zu bedienen ist und deren Hersteller sich nicht um kritische Rückmeldung scheren. Hectec zählt er ausdrücklich nicht dazu.
Am Bildschirm demonstriert Prof. Dr. Schnabel die optimale Lage der Pedikelschrauben im Wirbel. Die Dicke der Schrauben wird so gewählt, dass sie den schmalen Pedikel fast vollständig ausfüllen.
Chirurgie als Handwerk: Mit einem speziellen Schraubendreher bringt Prof. Dr. Schnabel die erste Pedikelschraube in die richtige Position. Zwischendurch geht der Blick immer wieder zum Bildschirm.
Die Planungssoftware erlaubt es, dreidimensionale Aufnahmen (links) und Röntgenaufnahmen (rechts) parallel zu betrachten. Jede Änderung am Sitz der Schrauben im CT-Bild wird automatisch in die Schnittbilder rechts übertragen. Schrauben erscheinen blau, Stangen rot.
Chirurgie ist Präzisions-
arbeit.
„Das Sondieren des Kanals erfordert viel Erfahrung und Gefühl“, sagt Schnabel, der solche Eingriffe bereits seit mehr als 25 Jahren vornimmt. Am Widerstand und an leichten Verkippungen merkt der erfahrene Arzt, ob die Nadel durch den Pedikel gleitet oder ob sie von härterem Knochen abgelenkt wird und droht, seitlich aus dem Pedikel auszutreten.
Auch wenn Erfahrung nicht zu ersetzen ist − selbst einem routinierten Operateur kann die Planungssoftware noch mehr Sicherheit geben. Besonders profitieren die weniger erfahrenen Weiterbildungsassistenten von der Möglichkeit, sich präoperativ ein genaues Bild von den anatomischen Besonderheiten des Patienten zu machen, etwa der genauen Lage von Nerven und Blutgefäßen oder leicht gegeneinander verdrehten Wirbeln. Auf den Monitoren im Operationssaal hat der Chirurg die Bilder aus der Planungsphase stets vor Augen. Doch soll die Entwicklung hier nicht Halt machen. „Optimal wäre es, die Planungssoftware auch mit dem Navigationsgerät zu verbinden, mit dem die Position der Sonde während der Operation überwacht wird“, erklärt Schnabel. Dann würde der aktuelle Sitz der Schraube quasi in Echtzeit mit ihrer geplanten Position verglichen.
So weit ist es zwar noch nicht – doch Jörn Seel, Geschäftsführer der Firma Hectec, ist für solche Anregungen aus der Praxis jederzeit aufgeschlossen. „Wir sind auf das Feedback der Ärzte angewiesen“, betont er. MediCAD sei von Anfang an in enger Abstimmung mit den Anwendern entwickelt worden. Um die Nutzerfreundlichkeit weiter zu erhöhen, ist die neueste Version des Programms nun auch mit einer großen elektronischen Datenbank verbunden − der eRef von Thieme, die die Klinik per Zusatzlizenz aktivieren kann.
Mit dieser Verlinkung hat der Chirurg zu jedem Zeitpunkt der Operationsplanung den schnellen Zugriff auf fallrelevantes Expertenwissen aus den Fachbüchern und Fachzeitschriften von Thieme, eine umfangreiche Bilddatenbank und alle notwendigen Aufklärungsbögen. Er kann direkt vom Planungsprogramm aus zu fachlichen Fragen recherchieren und zum Beispiel Vergleichsbilder abrufen oder Videos von ähnlichen OPs anschauen. „Neben den Inhalten war uns vor allem eine intelligente Suchfunktion wichtig“, sagt Julia Demirel, Produktmanagerin der eRef bei Thieme. „Uns geht es darum, den Arzt in seinem Arbeitsalltag bestmöglich zu unterstützen und ihm schnell und auf den Punkt die Informationen, die für ihn in der aktuellen Behandlungssituation relevant sind, zur Verfügung zu stellen.“
Bisher ist der Link zur eRef nur für die neueste mediCAD-Anwendung Spine 3D verfügbar. Er wird derzeit jedoch auch in die zweidimensionalen Classic-Varianten der Software ein–gebaut. Auch die 3D-Versionen für die Planung von Hüftgelenk-, Knie- und Sprunggelenk-Operationen, die dieses Jahr auf den Markt kommen werden, sind mit dem Link ausgestattet.
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ist seit 2008 Geschäftsführer der Hectec GmbH in Landshut. In den letzten acht Jahren ist die Entwicklung von mediCAD für ihn zur Herzensangelegenheit geworden. Als Kaufmann hat er sich dennoch den kritischen Blick auf die Medizin bewahrt und findet, dass der Umgang mit digitalen Anwendungen in der medizinischen Ausbildung und in der Praxis eine zu geringe Rolle spielt. Gerade beim Wissensmanagement und in der Dokumentation könnten Ärzte sich die Arbeit noch viel leichter machen. Als Vorbild nennt er etwa Architekten: „Die sind da schon viel weiter.“
Die eRef lässt sich direkt aus mediCAD heraus aufrufen – hier am Beispiel des
Suchwortes „Lordose.“
Im letzten Jahr seiner Facharztausbildung führt WBA Sahin Inci (links) viele Operationen unter Anleitung bereits selbstständig durch. Hier arbeitet er unter der fachkundigen Anleitung von Prof. Dr. Michael Schnabel. Beide sind sich einig: Eine gut vorbereitete, qualifiziert angeleitete und schrittweise erläuterte Operation ist für den WBA mindestens so viel wert wie drei unkommentierte.
11.27 Uhr: Auch der zehnte Thorakalwirbel der Patientin ist nun so präpariert, dass die nächste Pedikelschraube eingesetzt werden kann. Gemäß den Maßen auf dem Monitor wählt Michael Schnabel aus einer Vielzahl von Schrauben unterschiedlicher Länge und Dicke die passende aus.
Rund 85 Prozent aller verfügbaren medizinischen Implantate finden sich auch im elektronischen „Baukasten“ der Planungssoftware mediCAD wieder − das sind über 500.000 Implantat-Templates von rund 130 Herstellern. Bei Hectec seien allein acht Mitarbeiter damit beschäftigt, Implantate zu digitalisieren und die Template-Datenbank auf dem aktuellen Stand zu halten, betont Geschäftsführer Seel. So lässt sich per Mausklick das geeignete Implantat auswählen und auf dem Bildschirm einpassen. „Früher mussten die Chirurgen die OP-Planung auf dem Röntgenfilm vornehmen. Mit Zirkel, Lineal und Bleistift − und einem aus Transparentpapier ausgeschnittenen Implantat-Modell“, sagt Jörn Seel. Auch Michael Schnabel erinnert sich aus seiner Anfangszeit noch an so manche „Geometriestunde“, in der Röntgenfilme entlang der geplanten Schnittlinien zerschnitten und neu zusammengefügt wurden.
Dass diese Zeiten vorbei sind, merkt man auch im Operationssaal 1 deutlich. Klassische Röntgenbilder, die vor Leuchtkästen geklemmt werden, sucht man hier vergeblich. Weiterbildungsassistent Sahin Inci, der sich bereits am Ende seiner Facharztausbildung befindet, übernimmt während der zweiten Hälfte der Operation die Instrumente von seinem Chefarzt, um unter seiner Anleitung weiterzuarbeiten. Er kennt zwar Kliniken, die ihre OP Planung noch analog betreiben, hat selbst aber in den fünf Jahren als WBA nur noch die digitale OP-Planung kennengelern.
Entsprechend verändert sich auch die Dokumentation: Anstelle dicker Patientenakten mit Röntgenbildern ist im Wesentlichen nur noch ein schmaler Datenträger für die Speicherung einer Fallgeschichte nötig. Durch die Verknüpfung der Planungssoftware mit dem Dokumentationssystem der Klinik wird auch die rechtssichere Dokumentation stark vereinfacht.
Nach knapp zwei Stunden ist der instabile zwölfte Thorakalwirbel der Patientin überbrückt, die Längsträger der neuen Instrumentierung sind über Konnektoren mit der vorbestehenden Spondylodese fest verbunden. Mit einer abschließenden Röntgenaufnahme prüfen die Ärzte, ob alle Schrauben und Stangen am richtigen Platz sitzen, dann beginnt WBA Inci damit, die Wunde zu verschließen. In den nächsten Tagen und Wochen wird sich zeigen, wie die betagte Patientin den Eingriff verkraftet hat, ob die Schmerzen tatsächlich nachlassen und die Mobilität verbessert werden kann. „Eine Operation in diesem Alter ist immer mit Risiken verbunden – aber eine Dauermedikation mit starken Schmerzmitteln war keine erfolgreiche Alternative“, erläutert Schnabel. Denn diese dämpften als Nebenwirkung auch die Konzentration, und das Sturzrisiko steige bedenklich an. Der schönste Erfolg wäre es für den Chirurgen, wenn die Patientin nach monatelangem Liegen ein Stück Unabhängigkeit zurückgewinnen und sich wieder selbstständig in ihrem Umfeld bewegen könnte.
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Per Röntgenbild wird der Sitz der Schrauben
und Stangen kontrolliert.